Montag, 21. Mai 2012

Gottesdienst vs. Trallala

Sonntagmorgen. Die Kirchgänger sitzen erwartungsvoll im Gotteshaus. Die Orgel spielt ein kurzes, eigentlich banales Intro.

Dann eine laute Stimme aus dem Off: „Und hier ist er, Euer wunderbarer, Euer außergewöhnlicher … PFARRER!“

Der Pfarrer erscheint zwar nicht, doch die Orgel setzt erneut ein, lässt ein gewaltig dröhnendes „Conquest of Paradise“ erklingen.

Nachdem die letzten Töne verklungen sind, erfüllt Nebel den Altarraum. Als er ein wenig abgezogen ist, erblicken die Kirchgänger darin ihren Pfarrer. Er reißt die Arme in die Höhe und ruft: „Guten Morgen, liebe Gemeinde.“

Tosender Applaus erfüllt die Kirche, die Gläubigen springen von ihren Bänken auf  und klatschen frenetisch.

Nach einigen Liedern, bei denen er die Gemeinde immer wieder zum Mitschunkeln auffordert, gebietet der Pfarrer den Gläubigen mit einer kurzen Handbewegung Einhalt.
Er schaut nach oben und ruft: „Hier und jetzt, in unserer Kirche,  mitten unter uns, der großartige, der einmalige, der einzigartige … GOTT!“

Wieder setzt die Orgel ein, Gott wird mit Edward Elgars monumentalem Stück „Pomp and Circumstance“ begrüßt.

Beiläufig sei hier zu erwähnen, dass Gott selbstverständlich blendend aussieht, dennoch ist auf den ersten Blick für jeden deutlich zu erkennen: Gott ist ohne Sünde, Gott ist so rein wie ein neugeborener Säugling.

Längst hält die Gottesdienstbesucher nichts mehr in den Reihen, längst tanzen sie ausgelassen auf den Bänken, werfen Konfetti, keiner schert sich auch nur einen Deut um Gott.

Dann ziehen Pfarrer und Gemeinde, „Muss i denn zum Städtele hinaus“ singend und ekstatisch mitklatschend hinaus aus der Kirche, zurück nach Hause.

Das ist nun wirklich nicht das, was ich mir unter einem Gottesdienst vorstelle, was ich von einem Gottesdienst erwarte. Wo ist das Wort, wo auch nur der kleinste Bezug zum dreieinigen Gott? Dass sich alles in einem Gotteshaus abspielte? Das kann doch nicht alles sein.

Einen derartigen Gottesdienst habe ich glücklicherweise noch nicht erlebt. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass es etwas Derartiges nicht gibt. Doch genau so ein Gottesdienst spielte sich vor meinem inneren Auge ab, als ich neulich ein Panflöten-Konzert besuchte. In einer Kirche.

Sollte es Ihnen gelingen, in ihrer Vorstellung die Orgel durch Musik aus der Konserve, den Pfarrer durch einen Tourmanager, den gutaussehenden Gott durch einen langmähnigen Panflötisten und die Gottesdienstbesucher durch ein Konzertpublikum zu ersetzen, dann befinden Sie sich mitten in diesem Konzert. Gut, den Bühnennebel, die Konfetti und das Tanzen auf den Kirchenbänken dürfen Sie weglassen, aber dann kommen Sie der erlebten Realität sehr nahe.

Ich habe schon viele Panflötenkonzerte besucht. Ich lauschte verzückt der Musik so brillanter, und dennoch nicht weltberühmter Panflötisten wie Constantin Motoi, Pan Bogdan oder Roman Kazak. Jeder von ihnen beweist in jedem seiner Konzerte, bei jedem einzelnen Auftritt, wie groß sein Können und seine spielerische Bandbreite sind. Unterstützt werden sie von ebenso virtuosen Pianisten.

Roman Kazak und Pianist Wladimir Steba

Pan Bogdan

Motoi, Bogdan, Kazak und Co. spielen ergreifende Volksweisen aus ihrer Heimat und klassische oder fromme Musik. Nicht selten hörte ich Franz Schuberts „Ave Maria“, das viele Zuhörer zu Tränen rührte, oder „Die Lerche“ von Anghelus Dinicus, bei der der Panflötist mit seinem Instrument und enorm viel Spielwitz das Zwitschern und Pfeifen verschiedener Vögel imitiert und sich mit dem Pianisten ein Zwitscherduell liefern kann. Auch eine verjazzte Version von Martin Luthers „Ich lag in Todes Banden“ durfte ich schon hören.

All diese Konzerte fanden in Hallen oder Sälen statt, ließen das Publikum aber durchaus mit einem Gefühl von Beseeltheit zurück.

Als allerdings Edward Simoni den Altarraum der Kirche betrat - nach Ankündigung seines Tourmanagers, der „Magier der Panflöte“ werde nun erscheinen, dauerte es noch ein geschlagenes Lied aus der Konserve - kniete er zunächst kurz vor dem Altar nieder, bevor er seine Zuhörer mit erhobenen Armen begrüßte. Die applaudierten frenetisch.

Die meisten der von Simoni gespielten Lieder waren mit mehr oder minder pompöser, schlager- oder volksmusikartiger Konserven-Musik untermalt. Der „Magier“ musste damit nicht halb so viel Leistung erbringen wie seine weniger bekannten Kollegen, die das hölzerne Instrument nicht zu einem Festival des volkstümlichen Schlagers degradierten. Easy Listening nennt man diesen Musikstil, verriet mir das Internet, und er ist  durchaus gewollt.

Gerade diesem schlageresken Klang der meisten seiner Stücke verdankt Simoni wohl aber seine Berühmtheit: Nicht ohne Grund belegte er 1991 Platz eins der ZDF-Hitparade und wurde daraufhin zum bekannten "Star".

So erinnert Simonis süßliches Melodiespiel stark an Pianist Richard Clayderman, einen weiteren Vertreter des Easy Listening. Der erlangte in den 80er-Jahren mit melodiösen, aber auch von Durchschnitts-Klavierspielern recht einfach nachzuspielenden Stücken Berühmtheit. Überrascht war ich deshalb auch nicht, als ich erfuhr, Simoni und Clayderman würden noch in diesem Jahr gemeinsam auf Tournee gehen.
Edward Simoni
Nein, ich möchte wirklich nicht, dass mich ein Musiker zum Mitklatschen bei Ludwig van Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ auffordert, ich mag die „Air“ von Johann Sebastian Bach nicht mit Musik unterlegt, die eher zum billigen Erotikstreifen passen würde. Ich möchte „Muss i denn zum Städtele hinaus“ nicht in der Kirche hören, und ich möchte auch nicht, dass mir ein Panflötist im Gotteshaus vormacht, wie ich im Takt der Musik die Arme über den Kopf werfen und von rechts nach links und wieder zurück schwenken soll. Bitte, ich möchte das alles wirklich nicht!

Edward Simoni gebe einen großen Teil seiner Konzerte in Kirchen, erzählte mir einer seiner Mitarbeiter. Denn „das passt so wunderbar“, wie er meinte. Vielleicht, so vermute ich, kann ja der, der berühmt ist, darauf verzichten, inhaltliche Verbindungen zum Auftrittsort zu schaffen und auf solche Zusammenhänge einfach pfeifen.

Doch halt, ich will nicht ungerecht sein: Bei den wenigen Stücken, die Edward Simoni a capella spielte, spürte man deutlich, wie herrlich die Kirche, in der er auftrat, Hall wiederzugeben in der Lage ist,  und wie sie sich bereitwillig und demutsvoll als wunderschöner Klangkörper hergibt, ganz egal, ob Gotteslob oder Trallala.