Freitag, 20. April 2012

Wer den Pfennig nicht ehrt...

Beim Straßenfest gab es einen Stand, an dem bunte Süßigkeiten aus großen Gläsern verkauft wurden. Während ich noch das verlockende Angebot an zuckerigen Leckereien musterte, beobachtete ich aus den Augenwinkeln einen Jungen, vielleicht acht Jahre alt.

Er schlenderte zunächst um den Stand herum, so, als plane er den ganz großen Coup, einen exorbitanten Süßwarenkauf nämlich. Doch plötzlich stutzte er, zuckte kurz zusammen, die Augen blitzten gefährlich. Die Gummischlangen und Lutschtiere keines Blickes mehr würdigend umkreiste er den Stand und ließ sich hinter der Verkäuferin auf den Boden sinken.

Dort saß er und begutachtete intensiv den Boden vor sich. Dann begann er, mit den Fingernägeln an den Steinplatten zu kratzen. Bald hatte ich das Interesse an dieser seltsam anmutenden Tätigkeit verloren und ging weiter.

Vielleicht zwanzig Minuten später kam ich erneut an dem Stand vorbei. Und siehe da, der Knirps hockte immer noch auf dem Hosenboden und scharrte genüsslich, aber mit vor aufgeregter Anstrengung wild über den Mund fahrender Zunge vor sich hin. Schließlich siegte meine Neugier.

„Sag mal, wartest Du darauf, dass etwas von den Süßigkeiten zu Dir runterfällt?“, fragte ich ihn.
 „Nein, nein“, antwortete der Kleine entrüstet, „ich habe doch Geld genug dabei, um mir welche zu kaufen. Aber als ich vorhin hier vorbeikam, habe ich gesehen, dass zwischen zwei der Steinplatten ein Zwei-Cent-Stück steckt.“

Der Junge deutete mit dem Finger auf eine Stelle am Boden, dann erhob er sich und zuckte ratlos mit den Schultern.
 „Aber ich kriege es einfach nicht raus.“

Sprach`s und zog, traurig den Kopf schüttelnd, davon.

Geburtstagsglück

Die kleine Kerze war nur etwa so lang wie ein Zahnstocher und hatte einen Durchmesser von nicht einmal einem halben Zentimeter. Damit hatte sie die ideale Größe, um auch noch auf dem winzigsten Kuchen eine gute Figur zu machen.

Der Text auf der Packung verhieß: „Beim Anzünden ertönt Geburtstagslied“. Voller Vorfreude auf den musikalischen Hochgenuss wartete ich am frühen Morgen auf das Geburtstagskind. Endlich hatte es sich aus den Federn gequält und den Weg in die Küche gefunden. Ich entzündete das Kerzlein. Und tatsächlich, wie versprochen erklang „Zum Geburtstag viel Glück“. Wunderbar. Und sogar ein wenig romantisch.

Nach etwa zwei Minuten ununterbrochenen, lautstarken Gedudels verlangsamte sich die Ausschüttung an Glückshormonen allerdings leicht. Wir bliesen das Kerzlein aus. Doch die Musik spielte weiter. Und nach weiteren zwei Minuten war das aus dem unscheinbaren Kerzlein heraus geleierte Geburtstagsglück bereits zur beinah unerträglichen Folter geworden. Doch nirgends am Kerzlein ein Knopf zum Ausschalten.

 Nach der nächsten schier endlosen Minute legte das Geburtstagskind die Kerze ins Gemüsefach des Kühlschranks, denn vielleicht würde ja die Kälte… Minutenlang drang die Melodei nun gedämpft, aber nicht minder nervtötend als vorher durch die geschlossene Kühlschranktür an den Frühstückstisch. Die Nerven lagen blank, die Geburtstagsidylle war fast schon im Eimer.

Ich entschwand für einen Moment aus der Küche. Als ich wiederkam, hatte sich wohlige Ruhe über Kuchen und Geschenke gebreitet. Der Jubilar hatte zum Äußersten gegriffen. Das mechanische Kerzlein lag zerbrochen auf dem Tisch, und das Geburtstagskind knabberte genüsslich und zufrieden am Geburtstagskuchen.

Frauenkreis

Jeder hat Pläne und ganz persönliche Vorstellungen, die ihm sehr wichtig sind. Trotzdem geraten sie manchmal ganz plötzlich in Vergessenheit. Und bisweilen, ganz selten, wird man Jahre später an sie erinnert – auf die eine oder andere Art. Ein solches Deja-vu-Erlebnis hatte ich vor Kurzem.

Nachdem ich konfirmiert war, leitete ich mehrere Jahre lang zusammen mit einer Schulfreundin eine Jungschargruppe unserer Kirchengemeinde. Ich erinnere mich noch genau an diesen besonderen Nachmittag: Wir saßen und knieten mit den Jungscharkindern auf dem Boden und malten ein riesengroßes Bild, das als Bühnendekoration für ein Fest dienen sollte. Ich betrachtete lange die Kinder und fragte mich auf einmal, ob ich wohl in 20 Jahren noch immer Jungscharleiterin wäre. Und da war sie plötzlich geboren, diese völlig neue Idee.

Blitzartig war mir sonnenklar, dass genau hier meine innergemeindliche Zukunft läge, und darum verkündete ich die Idee sogleich aufgeregt meiner Kollegin:
 „Weißt Du was? Ich glaube, später übernehme ich mal einen Frauenkreis.“
 Sie schaute skeptisch.
 „Meinst Du wirklich?“, fragte sie irritiert.
 „Ja.“ Ich war ganz sicher.

Rückblickend muss ich wohl gestehen, dass ich damals nur eine recht vage Vorstellung davon hatte, was in so einem Frauenkreis eigentlich passiert. Wahrscheinlich hatte ich gedacht, mit den Damen, genau wie mit den Kindern, auf dem Fußboden zu sitzen und Bilder zu malen. Mit ihnen zu singen, ihnen Geschichten zu erzählen oder draußen mit ihnen herumzutollen. Nun gut, in allen Punkten lag ich nicht gänzlich falsch.

Doch die Zeit verging, und das eine oder andere Ziel verlor ich dabei aus den Augen. Erinnert an meine Hoffnung auf eine Zukunft als Frauenkreis-Leiterin wurde ich vor ein paar Wochen, ungefähr 30 Jahre, nachdem der Gedanke daran geboren worden war.

Während eines Besuchs bei einem Freund aus Kindertagen zwei Fahrstunden von meinem Wohnort entfernt, saßen wir in einem gemütlichen Café. Ein paar Tische weiter flüsterte eine ältere Dame aufgeregt mit ihrem Tischnachbarn. Immer wieder musterten die beiden mich und meinen Begleiter, ein wenig vorwurfsvoll, wie mir schien. Nach einer guten Weile erhob sich die Dame und kam an unseren Tisch.

„Guten Tag Frau Pfarrer“, sagte sie, und mir war, als täte sie dies mit leichter Ironie in der Stimme. Sie streckte mir die Hand hin, nicht ohne meinen Begleiter mit argwöhnischem Blick zu streifen. Ich schlug ein, erwiderte aber wahrheitsgetreu:
 „Ich bin keine Pfarrerin.“
 Die ältere Dame schüttelte den Kopf, machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte:
 „Natürlich nicht. Aber Sie sind doch die Frau von Pfarrer Meier zwei Orte weiter.“
 Nun war es an mir, den Kopf zu schütteln.
 „Nein ich wohne gar nicht hier in der Gegend. Und diesen Pfarrer kenne ich auch nicht.“

Die Dame schaute mich eine Zeitlang prüfend an. Dann lächelte sie erleichtert und meinte, mit dem Kopf nickend:
 „Ach, da haben Sie aber wirklich Glück.“
 Ich war irritiert, und fast etwas zu schnell fragte ich:
 „Warum? Ist Pfarrer Meier denn so schlimm?“
 Jetzt lachte die ältere Dame laut auf.

„Nein, nein“, sagte sie, „er ist ein sehr guter Pfarrer. Und so nett. Aber, wissen Sie, wenn Sie gar nicht die Frau Pfarrer sind, dann brauchen Sie nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst zu gehen, und Sie müssen auch keinen Frauenkreis leiten. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, Sie hätten Glück.“

Duftsäckchen

Vor ein paar Jahren kam mein damals achtjähriger Neffe für eine Woche zu Besuch in den Kraichgau. Einmal kauften wir in einem Drogeriemarkt ein. Nebenbei zeigte ich Jakob, wie man Parfums testet, indem man aus der Testflasche ein wenig auf kleine Papierstreifen sprüht. Er fand das überhaupt nicht spannend. Im Gegenteil. Er motzte und meckerte, was das Zeug hielt. Schließlich stinkt Parfum ja fast unerträglich. Für echte Jungs zumindest.

Trotzdem blieb er neben mir stehen und wartete geduldig, wenn auch naserümpfend. Ungefähr bei der zwanzigsten Testsprühung rief Jakob plötzlich: „Boah, das riecht ja voll cool. Das musst Du unbedingt kaufen!“ Glücklicherweise hatte auch ich mich spontan in den mir bislang unbekannten Duft verliebt, und so wandelten wir aromengeschwängert zur Kasse.

Daheim stellte ich den Flakon auf die Kommode im Badezimmer. In den nächsten Tagen passierte Seltsames, ja beinah Mystisches: Der Inhalt des Fläschchens nahm zusehends ab, obwohl ich noch nichts davon verwendet hatte. Hin und wieder, immer dann, wenn Jakob in der Nähe war, glaubte ich einen angenehm frischen, gar nicht jungenhaften Duft aus seiner Richtung zu erschnuppern. Ich fragte den Knirps danach.

„Ach, weißt Du“, antwortete der, „immer, wenn ich auf dem Klo sitze, sprühe ich ein bisschen Parfüm in die Luft. Naja, es könnte vielleicht schon irgendwie sein, dass ich mich dabei ganz aus Versehen manchmal selber treffe.“ Aus Versehen, klar.

Jakobs Ferien gingen irgendwann zu Ende. Am Abreisetag besprühte ich einen Wattebausch mit dem begehrten Gut, deponierte diesen in einem Plastikbeutel mit Zipp-Verschluss und schenkte Jakob das Tütchen.

In Kassel angekommen, sprudelte es aus Jakob heraus, kaum dass wir zur Tür herein waren: „Ich habe von Opa ein Lego-Flugzeug bekommen und einen Drachen, von Gabi ein Buch und eine Sonnenbrille.“

Dann machte er eine kleine Pause, um in fast feierlichem Ton hinzuzufügen: „Aber wisst Ihr, was das aller-aller-allerschönste Geschenk war?“ Und zog das Säckchen mit dem duftenden Inhalt aus der Hosentasche.